URS WIDMER – ZÜRICH – GESCHICHTEN VON DER LIMMAT – Buch

Text:  Urs Widmer, Schriftsteller
Fotos:  © Peter Gartmann

 

 

Die Limmat beginnt ihr Leben gleich als Erwachsene. Gerade hiess sie noch See, schon heisst sie Limmat. Und nach einem – wenn wir sie mit dem Nil oder dem Amazonas vergleichen – sehr kurzen Lauf verschwindet sie wieder, in der Anonymität sozusagen…

 

Eine Stadt ohne Wasser kann einem leid tun. Sie ist ein armer Fleck Erde aus Staub und Durst. Alle Städte, deren Glanz weiter als bis zu ihrem Horizont leuchtet, liegen an einem Wasser. Venedig! Prag! Paris! New York! Sogar das sagenhafte Timbuktu, im trockensten Herzen Afrikas gelegen, strahlt so, weil sich seine goldenen Mauern in den Fluten des Nigers spiegeln. Nur Jerusalem liegt auf dem Trockenen, und Las Vegas. Aber Jerusalem ist ein Traum, und Las Vegas ein Alb.

 

Und eben Zürich. Zürich liegt sogar an zwei Gewässern. An einem See und an einem Fluss. Es ist doppelt bevorzugt von den Göttern. Zwar ist der See so schmal, dass manche Reisende, Grösseres gewohnt, ihn zuerst für den Fluss halten. Umso verblüffter sind sie, wenn sie den wirklichen Fluss sehen. Die Limmat. Diese ist ein stolzes Gewässer von allem Anfang an. Ihre Fluten strömen blau, grün, schwarz. Sie ist auch eine geheime Grenze. Es soll Menschen geben, die sie nie überqueren. Links bleiben, wenn sie links wohnen. Rechts, wenn sie rechts.

 

Wasser ist Leben, auf Wasser ist alles bezogen. Wasser ist ewig, und so wie kein Haar von Gottes Haupt fällt, ohne dass wir das bemerken, geht auch kein Wassertropfen verloren hienieden. Es fragt sich nur, in was er sich verwandelt, und wohin. Jener einzelne Tropfen Wasser zum Beispiel, der aufs Alpenmassiv regnet, irgendwo hoch über, sagen wir, Weisstannen. Er sickert fünfzig oder auch zweihundert Jahre lang durchs Gestein, tritt durch eine Felsritze wieder ans Licht, gluckert in einem Bächlein talwärts, in einen grösseren Bach hinein, in einen See, einen Kanal, noch einen See – und nach wenigen hundert Jahren nur findet er sich in der Limmat wieder. Ich weiss nicht, ob der Wassertropfen weiss, dass er in der Limmat ist; dass er die Limmat ist. Ein Teil von ihr. Wassertropfen denken anders als wir. Zeitloser, mit andern Werten. Ohne Worte. Ihnen ist es, anders als unsereinem, egal, wenn sie unterwegs von einer Kuh aufgeschlürft und dann wieder ausgebrunzt werden. Wenn sie am frühen Morgen zwischen Grashalmen rasten und noch vor Mittag von der Sonne zu Dampf gemacht werden, zum Himmel hochsteigen – haben sie ein Gefühl für die herrliche Aussicht auf Berge und Täler? – und Teil einer Wolke werden, die zuerst weiss und majestätisch wandert, dann schwarz und schwer wird und sich schliesslich selbst vernichtet, indem die Wassertropfen – Millionen, Abermilliarden – alle gemeinsam in die Tiefe regnen. Auf solchen Wegen, auf solchen Umwegen kommt ein Wassertropfen im Lauf seines Daseins überall hin – falls er nicht das Pech hat, vom Eis der Arktis eingefangen zu werden, bevor er alles gesehen hat. Er weiss, was der Niagarafall ist, er hat seinen Sturz im zwölften Jahrhundert einmal juchzend mitgemacht. Er – der harmlose Tropfen in der Limmat jetzt – fegte einst als Teil eines Hurrikans über Ebenen, in denen die Palmen schräg standen wie wahnsinnig gewordene Pinsel. Er war auch, unser Wassertopfen, in jenem Ferienmeer, in dem wir glücklich schwammen. Ich weiss nicht ob die Tropfen, so nahe zusammengequetscht, Freundschaft schliessen untereinander. Vielleicht ja, vielleicht nein. Die Chancen, den Nebentopfen wieder einmal anzutreffen, sind nicht gross. Das weiss auch unser Limmattropfen, mit jener Art von Wissen, das die Wassertropfen haben. Gelassen lässt er sich mit seinesgleichen durch Zürich schwemmen, unter den Brücken hindurch, an den Zunfthäusern, der Grossmühle, den Schrebergärten vorbei. Hat keine Augen für Peter Gartmann, der am frühesten Morgen am Ufer steht, an seinen Objektiven dreht und auf den Auslöser seines Fotoapparats drückt, just als der Wassertropfen ganz oben an der Wasseroberfläche schwimmt. Ja, der dort, das ist er, der Tropf.

 

Die Limmat beginnt ihr Leben gleich als Erwachsene. Gerade hiess sie noch See, schon heisst sie Limmat. Und nach einem – wenn wir sie mit dem Nil oder dem Amazonas vergleichen – sehr kurzen Lauf verschwindet sie wieder, in der Anonymität sozusagen, falls wir die Aare Anonymität nennen dürfen. Ich glaube, das dürfen wir. Wieso heisst die Limmat überhaupt Limmat? Ihre Ursprünge sind so schwer zu finden, wie es einst die des Nils waren. Allerdings ist mir nicht bekannt, dass ganze Expeditionen sich aufgemacht hätten, die Limmatquelle zu finden. Ich war jedenfalls sehr allein, als ich das tat, und ich hatte das Gefühl, ich sei der erste. Dabei zeigte sich mir eine weitere Eigenheit, die die Limmat mit dem Nil teilt. Wie bei jenem göttlichen Strom, der auch aus hohen Bergen kommt, ist schwer zu sagen, welches der vielen Ursprungsrinnsale denn nun eigentlich die Quelle sein soll. Mehrere Gluckerbäche können sich um die Ehre streiten, das erste Wasser zur späteren Limmat beizusteuern. Und wie ist das mit den Namen? Warum heisst die Seez, die am ehesten und deutlichsten den Anspruch erheben darf, die jugendliche Limmat zu sein, nicht von allem Anfang an Limmat? Oder umgekehrt, warum heisst das Wasser, das zuerst in den Walen-, dann in den Zürichsee fliesst, bei seinem Austritt nicht mehr wie zuvor? Immer noch Seez? So dass Zürich eben an der Seez läge, warum nicht? Seez-Athen. Und warum eigentlich gewinnt die Aare dann den Namensstreit, wenn sie sich mit der Seez, ich meine mit der Limmat vereinigt? Warum kann sich der Rhein durchsetzen? Täte er es nicht, läge Basel nicht am Rhein, sondern an der Seez. Köln an der Seez, das klingt doch keineswegs schlecht! Und diese Seez ergösse sich dann bei Rotterdam in die Nordsee. Oder eben, falls sie von Anfang an Limmat geheissen hätte: dann wäre die Limmat einer der grossen Ströme der Welt, ihr Ruhm in aller Munde. Ein ebenbürtiger Kollege von Rhone, Donau, Nil, Amazonas und Mississippi. Vom Kongo ganz zu schweigen.

 

Die Bilder von Peter Gartmann zeigen uns eine fast ideale Limmat. Ihre Ufer, in ein wunderschönes Morgenlicht getaucht. Die Häuser, die Bäume, die Tiere auch. Aber sie zeigen uns keinen Menschen, kaum einen. Ich glaube, das hat der Fotograf so gewollt, damit wir sie mit unseren eigenen Menschen bevölkern können. Eine Projektionsfläche. Denn „in Wirklichkeit“ wimmeln die Menschen nur so um die Limmat herum, und hie und da schwimmt sogar einer in ihr. Ja, im Sommer treiben ganze Horden fröhlich flussabwärts! Andere, viel früher, taten das unfreiwilliger, die Hexen zum Beispiel. Sie mussten zu jenem Kampf mit Gott antreten – weil sie unbotmässig gewesen waren und eigene Gedanken gedacht hatten –, den nie eine gewann. Wie denn auch! Sie wurden in einen Sack voller Steine eingeschnürt und sollten so, durch heilige Gnade, an der Wasseroberfläche treiben. Taten sie’s nicht, soffen sie ab, so war das eben der Beweis, dass sie Hexen und des Teufels waren. Tief im Limmatschlamm liegen heute noch ihre von den Steinen beschwerten Gebeine. Mit denen der Selbstmörder vermischt, der Opfer der Mörder, die diese nachts von den Brücken stürzten. Aber auch Heiterkeit gab und gibt es auf und in der Limmat.

Die alten Römer, ich meine jene jungen, fast jugendlichen Römer, die in die Garnison von Turicum abkommandiert waren, machten das Beste aus ihrer Verbannung an diesen anus mundi – Soldaten hatten schon damals eine grobe Sprache – und planschten, wenn auch hier im eisigen Norden einmal die Sonne schien, in der Limmat herum. Die Ritter des Mittelalters – Zürich schon eine Stadt – mieden die Limmat. Die Schlacht von Morgarten, an der einige von ihnen auf der falschen Seite teilgenommen hatten, hatte sie gelehrt, sich vor Wasser zu hüten.

 

Huldrych Zwingli, wieder später, segnete die Limmatfluten, und er war der erste, der das auf protestantisch und züritüütsch tat. Sein Segen half der Limmat, nicht aber ihm, denn er wurde bald einmal totgeschlagen. Mozart logierte im Hotel zum Schwert und sah von seinem Zimmer aus auf die Limmat. Er summte vor sich hin, in ihrem Rhythmus. Goethe, als er an der Limmat ging, sprang, hüpfte, rannte, war so jung und wild und begeistert, dass er gar nicht merkte, wie neidvoll ihn die Zürcher empfingen. Gift und Galle, die von ihm abflossen wie Regenwasser. Er, Goethe, umarmte Lavatern ein ums andre Mal und fuhr auf einem Nachen, von dem aus er begierig frische Nahrung, neues Blut aus dem Wasser in sich aufsog. Dann reiste er wieder ab, und die Zürcher atmeten auf, dass sie wieder auf Lavater herumtrampeln konnten. Salomon Gessner, ihm war die Limmat fast zu gross. Er war für das Kleine zuständig, das Idyllische. Bei Johann Heinrich Füssli war’s dann umgekehrt, für ihn waren Zürich und die Limmat zu klein, und so ging er an die Ufer der Themse, die seinem Genie gewachsen war. Georg Büchner sezierte an Limmatfischen herum und starb bestürzend bald. Richard Wagner summte, sich wohlig in den weichen Wellen der Wasser wiegend, Stabreime vor sich hin. Lenin dafür, er tigerte ungeduldig am Ufer auf und ab, hielt wilde Reden, schwang die Fäuste und trieb – in seinem Kopf drin – Proletariermassen dem Winterpalais entgegen. Es kann sein, dass er die Limmat für die Newa hielt. Er machte wenig Unterschiede, auch später nicht, als er nicht mehr nur im Kopf drin handelte. James Joyce stand jahrelang am Platzspitz, ganz zuvorderst, direkt über dem Zusammenfluss von Sihl und Limmat. Er zwinkerte durch seine dicke Brille und dachte an die Liffey. Vielleicht floss just dann unser Wassertropfen von heute auch schon einmal vorbei. Vielleicht hatte Joyce ihn schon einmal in der Liffey gesehen? Vielleicht alle die Tropfen, die gerade vorbeischwammen? Es stimmt nämlich nicht, dass man, wie die Chinesen das behaupten, nie ein zweites Mal in den gleichen Fluss steigt. Mindestens theoretisch ist das schon möglich. Falls sich die Tropfen nochmals zusammenfinden. Es kann sein, dass Mozart, dass Goethe, dass Joyce genau den gleichen Fluss gesehen haben wie Peter Gartmann, und wir durch ihn.

 

In den Wassern der Limmat leben Geister. Wassergnome, Kiemenfeen, Schluckkobolde. Niemand weiss, wie viele es sind, wie viele Gattungen es gibt. Tausende vielleicht. Es gibt kein Artensterben bei den Geistern, sie sind unsterblich. Manche waren schon da, als sich noch Gletscher bis nach Zürich schoben. Allerdings weiss niemand, wer sie ausgesetzt hat. Wann. Vielleicht sind sie in antiken Zeiten aus dem Süden eingewandert, aus Griechenland etwa. Dafür spräche, dass sie einen Sinn für leichtfertige Scherze zu haben scheinen. Etwa schiessen sie zu fünft, zu zehnt, jäh aus den Fluten, rufen Buu und Baa und erschrecken uns, wenn wir am Ufer wandeln. Wassergeister sehen sehr verschieden aus, sind sehr verschieden gross. Manche winzig wie Elritzen, manche gross wie Kühe. Andere mal so, dann so. Aber alle sind von ähnlicher Farbe. Wässrig, so etwas zwischen grün und blau. Manche sind wie die Chamäleons – mit denen sie nicht verwandt sind – und nehmen den Ton des jeweiligen Wassers an. Wenn eine rote Coladose vorbeischwimmt, huscht auch ein roter Fleck über ihre Haut. Vielleicht also sind sie Spiegel. Vielleicht sind alle Geister Spiegel. Sie spiegeln uns. Wenn wir Böses tun, tun sie Gutes, und umgekehrt.

 

Man weiss nicht, wo sie schlafen, ob sie überhaupt Schlaf benötigen. Wohl nicht. Wer ewig ist, schläft nicht. Ihre Unsterblichkeit ist ihr einziger Kummer. Sie sind so ewig nass, sie sind so unaufhörlich glücklich, dass die Klügsten, die Schwierigsten, die Spinnigsten unter ihnen manchmal davon sprechen, wie ihr nasses Glück noch grossartiger wäre, wenn es einmal ein Ende fände. Tiefes Gefühl will eine Grenze, oder, eher, höchstes Glück kommt nur zustande, wenn es von einer Begrenzung weiss. Natürlich dürften die Wasserwesen nicht wissen, wann. Das Ende müsste unangemeldet kommen, jäh, überraschend, schmerzlos selbstverständlich. Sie beten nicht darum, die Geister. Geister beten nicht. Man betet Geister an, nicht umgekehrt. Sie haben tatsächlich Zaubermächte; aber selten machen sie Gebrauch von ihnen. Zum Beispiel können sie sich unsichtbar machen. Einen Wassergnom zu sehen, das ist ein ungeheuerliches Privileg. Ein tödliches zuweilen. Siehst du so einen wasserfarbenen Wicht, schrei’ laut oder sei still, aber flieh’. Nichts wie weg. Kiemengnome sind oft faul, sie lassen dich entwischen, allein schon, weil sie gar nicht Jagd auf dich machen. Wenn sie wollen, können sie blitzschnell sein. Vom Platzspitz bis zum See brauchen sie zwei, drei Sekunden. Man sieht sie dann nicht bei ihrem Unterwassersprint, aber an der Wasseroberfläche ist ein rasendschneller Schaumkronenstrich zu sehen, als ziehe ein sehr Grosser eine unsichtbare Rasierklinge durchs Wasser. Es ist dann besser, nicht in der Limmat zu schwimmen, nicht in die Bahn des entfesselten Kobolds zu geraten. Er fährt durch dich hindurch wie ein Messer durch eine Schokoladentorte. Da schwimmst du dann in zwei Teilen, der eine da, der andre dort, und dein Herz und dein Hintern können nie mehr zusammenkommen. Zudem tut sowas weh. Blut fliesst, das Limmatwasser wird rot, und die Chamäleongeister leuchten auf, als seien sie Sonnenuntergänge.

 

Natürlich ranken sich viele Märchen und Sagen um die Limmat. Schon die Kelten erzählten sie, die Helvetier. Sie erzählten sie de père en fils, de mère en fille. So sind sie bis zu uns gelangt, wenigstens bis zu denen, die keltische Vorfahren haben. Aber das haben viele, wenn auch manch römisches, germanisches, burgundisches, sarazenisches, italienisches, französisches Blut inzwischen in uns hineingeraten ist. So haben sich die Geschichten auch verändert, südliche Erzählspritzer sind in sie hineingekommen, etwa dass Gilgamesch auf seiner vergeblichen Suche nach dem ewigen Leben auf einem Floss aus Balsaholz die Limmat hinabgefahren sei. Das ist sehr unwahrscheinlich, das ist Quatsch, nie wuchsen in unseren Wäldern Balsabäume.

 

Die berühmteste Sage geht so: Ein junger Mann, mittellos zwar, aber eine Zierde seiner Stadt, erging sich eines Abends mit seiner Braut an den Ufern der Limmat. Die Frau war die Tochter des reichsten Bürgers von Zürich, eines Holzhändlers. Der junge Mann war sich sicher, fast sicher, dass er seine Braut um ihrer selbst liebte und nicht wegen der drei Häuser und der sieben Wälder, die ihm als Erbe anheimfallen würden. Auch sie liebte ihn, denn er war der beste Jäger der Stadt, und sie wollte erjagt werden. Oh ja, das wollte sie. Sie glühte. Also warf sie sich, kaum waren sie am Limmatuferweg angelangt und den Blicken der Neugierigen entschwunden, um seinen Hals und rief, sie wolle gefreit werden, und zwar jetzt! Hier! Die beiden lagerten sich also ins Uferschilf, halfen sich gegenseitig, Küsse austauschend, aus ihren Leibtüchern und Linnen, und der Bräutigam brummte schon los, die Braut stöhnte ein erstes Mal auf, als ein Etwas mit einem schmatzenden Laut aus dem Schilfsumpf schoss, direkt vor die Augen des liebenden Manns. – Die Frau hatte die Augen zu, sie sah nichts, sie wartete. – Der Mann, innehaltend, starrte das Wesen an. Es wandelte und verwandelte sich unaufhörlich, war ein sirrender Dunst zuerst, ein grünleuchtender Frosch dann, und endlich eine Frau, eine Wasserfrau, eine Frau von so unfassbarer Schönheit, dass der Bräutigam abstieg von seiner Braut, ohne überhaupt zu bemerken, was er tat, und willenlos der Schönen folgte. Sie hatte blaue Haare, lang bis hinab zu ihrer Scham, die unter einem Schuppengürtel verborgen war. Ja, die ganze Frau war unten herum aus Schuppen, aus blauschimmernden Schuppen. Sie war eine Flussjungfrau. Sowas wie ein Seepferdchen, aber kein Pferd eben, menschengross, eine Schönheit schöner als der Mond. Wie der Mond war denn auch ihre Gesichtsfarbe, blass leuchtend. Dunst drum herum, so dass der verzauberte Mann ihre Augen nicht genau erkennen konnte, ihren Mund. Aber der lächelte, der lächelte so, dass das Lächeln auch Weinen bedeuten konnte. Wie auch immer, der Mann war ihr verfallen. Natürlich tauchte sie in die tiefen Wasser der Limmat. Seltsam, ihm machte es nichts aus, der Geisterfee durch blauleuchtende Fluten zu folgen – woher kam dieses Licht in den Wassertiefen? – bis hin zu einem Schloss, in dem sie sich umwandte und ihn umfing und sich ihm hingab auf die Weise der Flussjungfrauen, von der wir nicht wissen, wie sie ist. – Immerhin haben sie ja Schuppen. – Sie verwandelte sich nicht, wie jetzt jeder erwartet und wie es auch der Jüngling erwartete, während oder nach der Liebe in ein Ungeheuer, sie verschlang, einmal befriedigt, den Mann keineswegs mit blutigen Reisszähnen, nein, auch danach war sie schön und lag herrlich atmend neben ihm, mit einem Schilfhalm im Mund, an dem sie kaute.

Auch er schien Kiemen zu haben, denn er atmete genauso glücklich. Sie lagen auf einem Bett aus Algen. Küssten und küssten sich. Das Wasser wurde hell: das war der Tag. Es wurde schwarz: das war die Nacht. Am siebenten Tag, in der siebenten Nacht sagte die nasse Schöne: Nun musst du gehen. Sieben mal sieben Male durfte ich dich lieben, mehr darf ich nicht. – Das war der Haken an der Geschichte. – Der Jüngling rief zwar, nein! Bleiben wir zusammen. Geliebte! Aber es half nichts, er musste gehen, er kletterte am gleichen Ort ans Ufer, wo er die Braut verlassen hatte. Erst jetzt fühlte er sich nass. Er war nass. Er sah zurück, aber die Limmat floss wie immer. Blau, grün, schwarz. Keine Hand winkte, kein Fischschwanz verschwand. Also ging der Mann nach Hause, wo alle heulten und weinten und schwarze Kleider trugen, weil sie ihn für ertrunken hielten. Die Braut nahm ihn in Freuden wieder auf, denn sie hatte seine Untreue nicht bemerkt. Hatte geglaubt, er habe einen Fehltritt getan, einen Fehlstoss und sei in der Limmat gelandet, im zu tiefen Wasser. Sie wollte das Verpasste sofort nachholen, und der Mann tat sein Bestes. Er heiratetet sie, sie heiratete ihn, und sie vermehrten sich und das geerbte Vermögen. Hatten bald sieben Kinder und sieben mal sieben Wälder vor den Toren der Stadt. Aber nie – das war der Haken! – konnte der Mann die Limmatfrau vergessen Er starrte auf die fliessenden Wasser, sah nichts, nicht einmal sein Spiegelbild. – Die Wasserfrau lebt heute noch irgendwo in der Gegend des Platzspitz. Hält nach uns Ausschau, und wenn wir mit einer Falschen kommen, zerrt sie uns ins Wasser und lehrt uns, wie es mit einer Richtigen wäre. – Die, denen das nicht geschieht, dürfen wissen, dass sie mit der Richtigen sind.

 

Eine andere Sage geht so: Die Wassergnome und Limmatgeister tollten just einmal in den Fluten, als plötzlich ein Hirsch die Limmat heraufgeschwommen kam, mit einem gewaltigen Geweih, auf dem Kerzen brannten. Hinter ihm prustete, angestrengt crawlend, ein Mann mit einer Krone auf dem Kopf, die Augen stier auf den fliehenden Hirsch gerichtet. Der stieg da, wo See und Fluss sich trennen, aus dem Wasser. Fiel auf die Knie. Karl der Grosse – denn der war der schwimmende König – tat ein nämliches und dankte dem Hirsch und begann das Grossmünster zu bauen. So wurde Zürich gegründet, oder so ähnlich jedenfalls.

 

Und seither fliessen die Wasser der Limmat blau, grün, schwarz. Schwarz, blau, grün. Sie fliessen und fliessen, und sie werden es noch tun, wenn es uns längst nicht mehr gibt, wenn es gar keine Menschen mehr gibt, kein Zürich mehr, nur noch Geister, Gnome, Feen, Kobolde und die Sonne, die aufgeht und unter.

 

Urs Widmer, Schriftsteller, 1999

 

 

Herausgeber Elektro Compagnoni, Zürich

 

 

Peter Gartmann fotografierte 1999 den Schweizer Schriftsteller Urs Widmer im Zusammenhang mit dem Buch „Zürich – Geschichten von der Limmat“.

 

 

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